Dokument-Nr. 11493

Kügelgen, Karl (Carlo) Konrad Emil von: Der Neubau der evangelisch-lutherischen Kirche in Sowjetrußland, in: "Dienst am Volk", Beilage der Tägliche[n] Rundschau, Nr. 16, 15. April 1928
Die theologische Fakultät der Universität Leipzig hat zu Ehrendoktoren der Theologie die Bischöfe der evang.-luth. Kirche in Sowjetrußland A. Malmgren-Leningrad und Th. Meyer-Moskau ernannt. Diese Meldung lenkt die Aufmerksamkeit auf die einst so mächtige evang.-luth. Kirche Rußlands, zu der der größte Teil der 2, 3 Millionen Deutscher im alten Rußland sowie die übrigen Evangelischen, z. B. die Esten und Letten im Baltikum, gehörten. In den ersten Zeiten der Revolution und des Bürgerkrieges, wo die Verfolgung alles Kirchlichen hohe Wellen schlug, zerfiel der einst so stolze Bau. Die Gemeinsamkeit der Evangelischen hörte auf; die Gemeinden, besonders die ländlichen der Kolonisten in verschiedenen Teilen des Reiches, waren sich selber überlassen. Hierzu kam die Auswanderung, Hungersnot und Seuchen (die Zahl der Deutschen in Rußland ist auf etwa eine Million zusammengeschmolzen) sowie nationale Gegensätze zwischen Deutschen, Esten und Letten. 1920 gelang es unter Führung des Bischofs der Evangelischen Kirche in Rußland, Conrad Freifeldt, einen Notbau zu errichten, die nationalen Gegensätze zu beseitigen und alle Gemeinden, die man erreichen konnte, wieder in eine Organisation zu vereinigen. Hierbei wurde, den veränderten politischen Verhältnissen angepaßt, ein "Rätesystem" eingeführt, das auch bis heute in seinen Grundzügen gilt. Die Gemeinden bilden dem Staate gegenüber Vereine, die die Pfarrer als Kirchenbeamte wählen.
Eine feste Neugestaltung der evang.-luth. Kirche wurde in der ersten evang.-luth. Generalsynode, die Rußland seit dem Bestehen dieser Kirche gesehen, im Juni 1924 vollzogen. An der Spitze der Kirche steht jetzt ein Oberkirchenrat mit dem Sitz in Moskau. Er nahm seine Tätigkeit im September 1925 als selbständige Kirchenbehörde auf und entfaltete unter seinem Präsidenten, dem Bischof Th.  Meyer, eine rege Tätigkeit. Daß dies möglich ist, bedeutet bei allen Schwierigkeiten, mit denen die Kirche in Sowjetrußland noch zu kämpfen hat, doch einen kraftvollen Fortschritt. Dafür zeugt auch die Monatsschrift für die evang. luth. Gemeinden in Rußland, die der Oberkirchenrat seit dem September v. J. unter dem Titel "Unsere Kirche" herausgibt.
Wir erfahren aus dieser Zeitschrift, daß die Kirchspiele in Propstbezirke zusammengeschlossen sind. Diese halten Synoden ab, in denen als Gemeindevertreter neben den Pfarrern auch Laien sitzen. Hier werden die dringendsten Nöte der Kirche beraten. Der Oberkirchenrat sucht ihr Gesamtinteresse zu vertreten, soweit dies bei dem völligen Mangel an Rechten und Machtbefugnissen möglich ist. Es ist zu beachten, daß die Staatsbehörden die Gemeinden auf Grund des herrschenden Vereinsrechts mißtrauisch überwachen. So muß über die Verwendung der Mittel, z. B. der Kirchenkollekten, strenge Rechenschaft abgelegt werden. Die Erteilung von Religionsstunden an Kinder ist Pfarrern und Lehrern gänzlich verboten und nur den Eltern gestattet. Die Vollziehung der Konfirmation haben die Kolonisten durchgesetzt. Doch darf nach dem gültigen Gesetz Konfirmationsunterricht nicht an mehr als drei Kinder gemeinsam erteilt werden. Derartige Bestimmungen erschweren das geregelte Kirchenleben außerordentlich.
Eine der schwierigsten Fragen ist die des Pfarrer- und Küstermangels. Nach Angaben des Kirchenblattes gab es zu Beginn vorigen Jahres im Gebiet der Sowjetunion rund 90 besetzte Kirchspiele. Ihnen standen 63 unbesetzte gegenüber, davon 7 in Sibirien, das von Predigern fast entblößt ist. Man sucht diesem Mangel dadurch abzuhelfen, daß die Pfarrer Reisen in die zerstreut liegenden Gemeinden unternehmen; so sind der im Herbst 1926 an den Folgen einer solchen Reise verstorbene Bischof Palsa, Bischof Meyer u. a. nach Sibirien gegangen. Ueberhaupt haben die Pfarrer Riesengebiete zu bedienen. Die zahlreichen finnischen, estnischen und lettischen Gemeinden in verschiedenen Teilen Rußlands sind in den oben genannten Kirchspielen nicht miteinbegriffen. Sie werden ausschließlich von unstudierten Notstandspfarrern bedient. Durch diese Notstandsprediger und Laienhelfer entstehen naturgemäß mancherlei Mißstände. Alle Zersetzungserscheinungen, ebenso wie die Sekten finden bei den Behörden nach Möglichkeit Unterstützung. Da eine Berufung von Pfarrern aus Deutschland keine Aussicht hat, wie das Moskauer Kirchenblatt neuerdings bestätigt, ist 1925 in Leningrad ein Predigerseminar eröffnet worden, das in diesem Jahr der Kirche 16 Pfarrer schenken soll. Schon Bischof Freifeldt hatte 1922 ein Seminar ins Leben gerufen, aus dem 11 Prediger hervorgegangen sind. In mancher Beziehung gestaltet sich die Küsterfrage noch schwieriger. Der Küster, der auch im alten Rußland in den weit zerstreuten Kolonien den Pfarrer vertrat, hatte seinen Lebensunterhalt dadurch, daß er an der Dorfschule Lehrer war. Das ist jetzt verboten. Daher mußten Bauern Küster werden und den Küsterberuf nebenbei betreiben, wobei sie noch Anfeindungen ausgesetzt werden. Aus diesem Grunde herrscht schwerer Mangel an Küstern.
Wenn die evang.-luth. Kirche auch jetzt noch, nachdem die Zeit der blutigen Verfolgungen aufgehört hat und die staatlich organisierten Verhöhnungen alles Kirchlichen zurückgetreten, schwer um ihre Existenz ringt, so sind doch Fortschritte nicht zu leugnen. Wohl ist die materielle Stellung der Pfarrer und der Unterhalt der Kirche sehr schwierig und vollkommen von der freien Opferwilligkeit der Gemeinden abhängig. Aber nach allen Berichten aus Rußland ist in den meisten Kolonien der kirchliche Geist noch so stark, daß der Zudrang zu jedem Gottesdienst überwältigend ist.
C. v. Kügelchen [sic].
Empfohlene Zitierweise
Kügelgen, Karl (Carlo) Konrad Emil von, Der Neubau der evangelisch-lutherischen Kirche in Sowjetrußlandin: "Dienst am Volk", Beilage der Tägliche[n] Rundschau, Nr.16 vom 15. April 1928, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 11493, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/11493. Letzter Zugriff am: 02.05.2024.
Online seit 20.01.2020, letzte Änderung am 01.02.2022.